Titelbild von Contantin Film Verleih
©Constantin Film Verleih/Gordon Timpen

Schluss mit den Opfermärchen! Elf Jahre ist es her, dass Fack ju Göhte über die Leinwand flimmerte und bis auf die Romantisierung toxischer Männlichkeit wenig zu bieten hatte. Nach den vernachlässigbaren Fortsetzungen kommt jetzt ein Spin-off: Mit Chantal im Märchenland wagt Regisseur und Drehbuchautor Bora Dagtekin einen Versuch der Wiedergutmachung. Und er gelingt ihm.

Chantal (Jella Haase) – die Aldi-Prinzessin – sagt es nach knapp 30 Filmminuten: “Was ich mich immer frage bei den Märchen: Wieso wehren die kleinen Dumpfbacken sich eigentlich nie?” – und setzt sich ebenso brutal wie erfolgreich gegen die Hexe Sansara (Nora Tschirner) durch. Aber eins nach dem anderen: Durch ein Missgeschick hat die Protagonistin sich selbst und ihre “BFF” Zeyneb (Gizem Emre) in ein Paralleluniversum katapultiert. Schnell müssen die beiden erkennen, in einer Märchenwelt gefangen zu sein. Hier treiben nicht nur grimmsche Figuren und karikatureske Feen – hier in Form von Fee Funkelchen (Maria Happel) – sondern auch Sagengestalten ihr Unwesen. Das Frauenduo erkennt schnell, dass Chantal das Schicksal von Dornröschen ereilen soll. Doch das will sich die Protagonistin nicht bieten lassen.

Die erste erzählerische Überraschung ereignet sich, als Chantal bereits relativ zu Filmbeginn eigenmächtig Sansaras Fluch loswird. Trotzdem macht sich Prinz Bosco (Maximilian von der Groeben) widerwillig auf den Weg, um die fremde Frau, die er nicht im Ansatz begehrt, wachzuküssen. Warum er sie niemals begehren wird? Weil er schwul ist. Warum er trotzdem um ihre Hand anhält? Weil Boscos Mami es so will. Warum Mami es so will? Aus wirtschaftlichen Gründen. Beim Versuch, Chantal “zu retten”, verschluckt der tollpatschige Bosco den Fluch selbst … und wird von seinem Knappen wach geküsst. Dass In-The-Closet-Bosco seine sexuelle Orienterung unter einer herrischen Fassade verbergen wird, ist traurig – aber logisch. In dieser Welt hilft auch Chantals positiver Zuspruch nichts. Und natürlich soll sie auch verantwortlich für Boscos Homosexualität sein. Wer auch sonst?

Die gefesselte Schreibfeder und der Erhalt der Macht

Im weiteren Filmverlauf wird bei all den jugendsprachlichen Spezialitäten vor allem diese Botschaft deutlich: Die Unterdrückung der weiblichen und nicht-heteronormativen Figuren in der Literatur verfolgt wirtschaftliche Zwecke. Im Film geht sie vor allem vom König – dem echten Antagonisten der Story – aus, der die Geschichten nach seinem Belieben aufschreiben lässt.

Halt! Habt ihr etwa vor, heiratsfähige Mädchen zu animieren sich mit einem Schwert durch den Wald zu schlagen? Haben wir dafür nicht tapfere Ritter? Und Prinzen! Deine Geschichten sollen mein Reich in den Fugen halten.

König zum königlichen Schreiber
(nach dem Auftauchen von Rotkäppchen, die gerade eigenhändig den Wolf erlegt hat)

Zwar wehrt sich die gefesselte Schreibfeder heftig, verliert jedoch immer wieder den verzweifelten Kampf. Dieses Detail ist angesichts der FackJuGöhte- und TürkischFürAnfänger-Vergangenheit der Macher:innen dann doch erstaunlich differenziert. Und natürlich werden Frauen, die sich widersetzen, abgeschlachtet. Als Prinzessin Amalia (Maria Ehrich) mal so nebenbei ein Schwert aus einem Stein zieht und ihr Angetrauter Artolf (Frederick Lau) die weibliche Leistung für sich selbst beansprucht, kann sie nicht anders reagieren, als klein beizugeben. Zu groß ist ihre Angst, für ihr Aufbegehren auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Oder, wie schon Cersei (andere Filmbaustelle) wusste: Power is power.

Doch Chantal gibt nicht klein bei:

Chantal: “Was macht eine Fotze in Neuperlach, wenn sie nachts von einem ekligen Typen angepackt wird?”
Zeyneb: “Sterben.”
Chantal: “Nein, Mann. Kämpfen.”

Dialog zwischen Chantal und Zeyneb

Der Film entfaltet dabei eine Dichte, die es oft schwer macht, wirklich jede philologische Referenz auf Anhieb zu erkennen. Aber was macht eigentlich Zeyneb? Auch sie hat etwas zu tun: Sie soll den Spiegel, den Chantal zerbrochen hat, wieder herstellen. Dafür muss sie sich selbst als Hexe weihen lassen. Sansara (wir erinnern uns) erkennt in den beiden nämlich die Erfüllung einer ganz bestimmen Prophezeiung, die der Schwesternschaft der Hexen – pardon: Schwesternschaft der Erde aka Hebammen – die Freiheit bringen wird.

Du bist die Prophezeiung. Du bringst dem Reich und meinen Schwestern den Neubeginn.

Sansara zu Chantal

Wir haben es bereits geahnt: Natürlich sind die bösen Hexen gar nicht so böse. Eigentlich ist Sansara eine Geburtshelferin, die nebenbei fortpflanzungsunwilligen Frauen zum Schwangerschaftsabbruch verhilft. Dass das mit dem patriarchal-königlichen Machterhalt im Widerspruch steht, ist nur logisch. Dass sie von der misshandelten Schreibfeder dafür satanisiert und von ihren eigenen (biologischen) Kindern Hänsel und Gretel getötet werden soll, natürlich auch. Und auch Chantals reizendes Love Interest Aladin (Mido Kotaini) ist kein Dieb, sondern lediglich rassistischen Narrativen weißer Machthaber unterworfen.

Am Ende muss und will Chantal ihre beste Freundin Zeyneb selbst retten und den Drachen bezwingen. Dabei gibt es auch noch einen überraschenden Gast-Auftritt von Jasmin Tabatabai. Und für alle – bis auf den König und seine Systemerhalter:innen – ein Happy End mit Fortsetzungsmöglichkeit.

Fem-Ampel

weibliche Stereotypisierung
14%
negatives Queercoding
0%
negatives Non-White-Coding
0%

Lediglich die Tatsache, dass die Protagonistin nicht erwerbstätig ist, sorgt für 14 % im Score der weiblichen Figurenstereotypisierung. Das fällt – auch im Hinblick auf das Filmende – jedoch kaum ins Gewicht. Welche Parameter im Testverfahren erhoben werden, ist hier nachlesbar.

Fazit

Besonders weitsichtig in der Erzählung ist die Tatsache, dass nicht klar ist, ob ein rein weiblich geführtes Königreich auf lange Sicht tatsächlich das Bessere sein wird – erzählt wird deshalb auch “nur” ein Neubeginn. Eine schöne Idee. Dass vorrangig Männer über das durch den Filmkonsum vermeintlich verursachte Schrumpfen ihrer vermeintlich ausgeprägt vorhandenen Hirnzellen klagen, dürfte mehr über sie selbst als über die Filmqualität aussagen. Oder, wie es Daniel Fabian auf filmstarts.de ausgedrückt hat: “Heult leise.” Chantal im Märchenland ist aufgrund der Jugend- und Fäkalsprache oft eine auditive Herausforderung, bietet jedoch erfrischende feministische Ansätze. In Ordnung, Bora Dagtekin: Es sei dir verziehen.

Hier geht’s zum Trailer:

Kinostart: 28. März 2024
Verleih: Constantin Film
Buch und Regie: Bora Dagtekin
Produzentin: Lena Schömann

You May Also Like