Tangled ist Disney’s 50. “Meisterwerke”-Produktion. Verworren wie Rapunzels Haar sind auch die minderheiten-feindlichen Gusto-Stückerl, die die Erzählung bereit hält: Von Non-White- und Queer-Coding der (wunderbaren) Schurkin Mother Gothel über ungesunde Beziehungsmuster bis hin zur Errettung der Jungfrau in Nöten durch ihr männliches Love Interest ist alles dabei. Doch ist dem Film auch das ein oder andere Aufbrechen männlicher Stereotype zugute zu halten. Am Ende darf der Reziprozitätstest für Lacher sorgen. Spoilers ahead, denn hier kommt die ganze Geschichte.

Tangled entlehnt seine Handlung aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, hat mit der ursprünglichen Erzählung jedoch herzlich wenig zu tun. Die Erzählung beginnt mit der wohltuend sonoren Stimme eines für den Film geschaffenen Kriminiellen: Flynn Rider. Immerhin ist der Berufsverbrecher schlau. Und weil er kognitiv so ermächtigt ist, wird am Ende er es sein, der die Protagonistin Rapunzel retten darf. Natürlich wird er sich auch zuvor in sie verliebt haben. Aber eins nach dem anderen.

Der Film startet also in Mansplaining-Manier mit Flynn Rider als Erzähler: Eine jahrhunderte alte Frau (Mother Gothel) besingt zum Zwecke lebenserhaltender Reverse-Aging-Kuren eine magische Blume. Die geringschätzigen Kommentare, die Flynn dabei über Gothel ablässt, suchen ihresgleichen. Doch es kommt, wie es kommen muss: Die böse Alte darf nicht mehr in Frieden leben und singen, denn die Königin erkrankt schwer. Der König ist in tiefer Sorge und entsendet seine Soldaten, um ein geeignetes Heilmittel zu finden, bzw.: finden zu lassen. Kurzum: Die magische Blume wird aufgespürt und von den Soldaten gepflückt. Doch im königlichen Palast denkt man nicht an melodiöse stimmliche Betätigung. Man verkocht die (ebenso jahrhunderte alte) Pflanze als Suppeneinlage, die daraufhin von der Königin verspeist – also vernichtet – wird. Das hat weitreichende Folgen. Nachdem die Monarchin die Magie verdaut hat und geheilt ist, kommt eine Prinzessin zur Welt: die Protagonistin Rapunzel, deren Kopfhaar nun die magische Kraft der Blume geerbt hat.

“Böserweise” hat Gothel keine Lust, den sicheren Tod zu akzeptieren: Sie dringt in das Schloss ein und schneidet zunächst eine Haarsträhne des Neugeborenen ab. Unmittelbar muss sie erkennen, dass die Magie, die sich in das Kopfhaar des Babys transferiert hat, beim Abschneiden wirkungslos wird. Anstatt abzurauschen und zu sterben, wie es sich für alte Schachteln gehört, stiehlt sie das gesamte Kind … und verfrachtet das Baby in einen Keller – pardon – einen Turm, wo es die nächsten 17 oder 18 Jahre verbringen und unter falscher Identität aufwachsen wird.

Jewish Coding und gesellschaftlicher Status

Während die Grimm’sche Vorlage also eine mächtige Zaubererin als Antagonistin des Märchens einsetzt, stilisiert Disney die Bösewichtin Mother Gothel zu einer gescheiterten Existenz: “Geizig, randständig, andersartig”, mit wallendem, schwarzgelockten Haar und nach “jüdischen Klischees” modelliert (Tatum Schutt, 2022). Das althergebrachte Motiv des blood libel, die Ritualmordlegende, ist nicht zu übersehen. Und während die magische Blume in der literarischen Vorlage gewöhnlicher Feldsalat ist, hat zwar das Motiv der Verspeisung heilsamen Grünzeugs Eingang in die Disney-Version gefunden – jedoch weicht diese Motivation jener der weiblich konnotierten Angst vor dem Altern. Mother Gothel, die bislang friedliche Jahrhunderte voll Gesang verbracht und die Blume dabei an Ort und Stelle belassen hat, wird von den Soldaten beraubt. Und dies stellt schon den einzigen progressiveren Storytelling-Ansatz dar, den die Disney-Version bereithält: 2020 bemerkte die Autorin Wellman, dass neuere Disney-Produktionen beginnen, die Auswirkungen männlichen Handelns auf Frauen zu erzählen.

Unglücklicherweise internalisieren dabei kindliche Rezipient:innen auf sehr subtile Art, dass dieselbe (oder im vorliegenden Fall sogar harmlosere) Handlung unterschiedliche gesellschaftliche Urteile erfährt: Während das minimalinvasive Besingen einer Blume im Film als “creepy” bezeichnet wird, ist das Pflücken und irreversible Verspeisen der Pflanze offenbar völlig legitim. Wovon diese Bewertung abhängt? Vom sozialen Status der Täter:innen. Wäre die an der Spitze der Gesellschaft stehende Königin nicht erkrankt, die Blume nicht von den Soldaten gepflückt bzw. entwendet, für die Erkrankte nicht verkocht und von dieser nicht verspeist worden, so hätte die Antagonistin wohl noch weitere Jahrhunderte voll Gesang verbracht.

Skip the drama, stay with mama

Mother Gothel arbeitet im weiteren Handlungsverlauf vor allem mit psychologisch repressiven Werkzeugen, wie es sich für eine weibliche Schurkin gehört. Rapunzel denkt nicht daran, für immer im Turm zu bleiben. Als sie wiederholt den Wunsch äußert, die jährlich an ihrem Geburtstag in der Ferne aufsteigenden Lichter in Augenschein zu nehmen, bietet Gothel die musikalisch beste Song-Performance des Films dar: Mother Knows Best – gesungen von Donna Murphy.

Das problematische mütterliche Subsitut in Form einer verbrecherischen (und vermutlich jüdischen) Pflegemutter bedient sich dabei der klassischen “Angstmache”, um die Teenagerin vor der Außenwelt zu verschrecken. Doch schon bald verirrt sich der eingangs erwähnte Flynn Rider auf seiner Flucht vor staatlicher Verfolgung in den Turm.

Zwar wird die Protagonistin zunächst als durchaus wehrhaft porträtiert – doch braucht sie (warum eigentlich?) die Hilfe eines Mannes, um den finalen Schritt aus dem Gefängnis zu wagen. Ja, warum eigentlich: Der Film liefert uns die Erklärung, dass Rapunzel einen Fremdenführer braucht, um die von ihr jährlich bewunderten, fernen Lichter erklärbar zu machen. So verfolgt Disney auch 2023 das Narrativ, das weiblichen Protagonistinnen vorrangig männliche Helfer zur Seite stellt: Zwar ist Rapunzel durchaus in der Lage, sich selbst am eigenen Haar aus dem Turm abzuseilen – dass aber erst eine männliche (und gescheiterte) Existenz auftauchen muss, wirkt öde. Schlicht und ergreifend auch deshalb, weil die Figur des Flynn beliebig austauschbar ist. So bleibt die männliche Hauptfigur leider völlig substanzlos.

Auf ihrer Reise durch den Wald gelangen die beiden zu einem zwielichtigen Lokal, mit dessen sehr bedrohlich wirkenden, ausschießlich männlichen Gästen sie sich verbünden. Wenigstens diese Szene sorgt für ein Aufbrechen männlicher Stereotype.

So besingen die scheinbar gefährlichen Männer völlig selbstverständlich und mit viel Leidenschaft ihre Träume: Einer möchte Florist, der nächste Interior Designer sein – sie frönen der Pantomine, backen Cupcakes, stricken und nähen und veranstalten Puppentheater. Das wirkt erfrischend. Leider gestaltet sich die Annäherung zwischen Protagonistin und ihrem (männlichen) Helfer wiederum ultra-stereotyp: Die Protagonistin schafft es natürlich, hinter die rauhe Fassade des Kriminiellen zu blicken und verliebt sich schnell in ihn. Es ist die ewig gleiche Nummer: Frauen und Mädchen! Tief im Inneren ist er doch ein Guter. Zwar behandelt er dich schlecht, beschimpft dich, setzt dich herab und gibt dir das Gefühl, ein Klotz an seinem Bein zu sein – doch er meint es nicht so. Eine Anregung an dieser Stelle: Sagt euren Kindern, dass gegenseitiges Interesse attraktiv macht. Ablehnung erzeugt bei einem gesunden Beziehungsmuster genau eines: Ablehnung. Er will dich nicht? Pack up your shit and go.

Währenddessen setzt sich Mother Gothel dicht an die Fersen der Reise-Buddies, die sich (trotz des unmöglichen Verhaltens des männlichen Individuums) dank der positiv-interpretativen Abilität der Protagonistin näher kommen. Disney’s Storytelling geht natürlich auf: Sie schafft es, die Mauer des Grobians, der sie wie Scheiße behandelt, niederzureißen. Gratulation, Rapunzel. Dass sie im Rahmen ihrer Rettungsaktionen durchaus eigene Ideen liefert, dürfte wohl Disney’s einzigen Beitrag zu “gleichberechtigteren, weiblichen Figuren” darstellen.

Queer Coding

Zurück zu unserer Schurkin Mother Gothel: Disney hat eine Tradition des Queer Codings seiner (männlichen wie weiblichen) Antagonist:innen. Bei Gothel ist sie etwas subtiler: Die Art, wie die Bewegungen der Figur dargestellt werden, ist dazu geeignet, ihre Weiblichkeit ins Groteske zu ziehen. Hierdurch erinnert sie deutlich an Ursula, die nachweislich der Drag Queen Divine nachempfunden ist. Auch dürfen wir uns daran erinnern, dass weibliche Disney-Antagonistinnen kinderlos und/oder reproduktionsunfähig dargestellt werden – jedenfalls aber ohne männlichen Partner. Bezeichnend ist jedoch vor allem die Art, wie Gothel über Männer spricht: Zwar kann davon ausgegangen werden, dass auch junge Zuseher:innen durchaus erkennen, dass das Handeln (und Sprechen) der Schurkin den eigenen Zielen dient – doch ist die Herabwürdigung, die sie ausspricht, direkt an ein angebliches männliches Attraktivitätsempfinden geknüpft. So benutzt sie an dieser Stelle das althergebrachte Muster, dass der Wert einer Frau nur durch einen Mann bestimmbar sei. Dass das seitens der Drehbuchautor:innen keinen kritischen Ansatz verfolgt, zeigt die Betrachtung der Historie Disneys.

Die Rettung der Jungfrau

Am Ende des Films wird die “Jungfrau in Nöten” aka Rapunzel durch die Intelligenz von Flynn Rider gerettet, der – es geht nicht kitschiger – bereit ist, sein Leben für sie zu opfern. Aber auch sie ist bereit, sich für ihn aufzugeben: Rider kommt in den Turm und wird von Gothel mit einem zweischneidigen Messer (der Klassiker unter den phallischen Symbolen?) niedergestochen. Rapunzel schließt daraufhin einen Deal: Wenn sie den tödlich verletzten Flynn mit ihrer Magie heilen darf, wird sie bei ihrer “Mutter”, von der sie wunderbar symbolisch an einer klappernden Kette festgehalten wird, bleiben. Die Bösewichtin nimmt den Deal an – doch Flynn Rider schneidet Rapunzel mit einer Glasscherbe das Haar ab, wodurch sie ihre Magie verliert. Die jahrhunderte alte Gothel zerfällt daraufhin in einer dramatischen Szene zu Staub. Als Flynn in Rapunzels Armen stirbt, beginnt die nun braunhaarige Protagonistin zu weinen: Und die Träne, die auf das Gesicht des Helden herabfällt, heilt und erweckt ihn wieder zum Leben. Rapunzel kehrt heim zu ihren sanften, liebevollen, biologischen Eltern, die sie sofort erkennen. Während die heteronormative Familie vor Rührung auf den Boden sinkt, streckt die wahre Mutter die Hand nach Flynn Rider aus und zieht ihn zu sich.

Reziprozitätstest

Score
0%

Welche Parameter im Testverfahren erhoben werden, ist hier nachlesbar. Aus Rapunzel wird im Test ein Jüngling mit meterlang wallendem, blonden Haar, das täglich von seinem verbrecherischen Pflegevater besungen wird. Das väterliche Helikopter-Subsitut wird daraufhin wieder jung und entschwindet aus dem Turm, in dem er den einst gekidnappten Prinzen, der nichts von seiner wahren Identität ahnt, gefangen hält. Doch eines Tages findet eine Berufsverbrecherin mit gutem Herzen und noch besseren Ideen (auf ihrer Flucht vor staatlicher Verfolgung) Unterschlupf in dem abgelegenen Gebäude. Der verängstigte, jungfräuliche jungmännliche Teenager schlägt die Einbrecherin zunächst mit einer Bratpfanne nieder … Noch Fragen? Tangled fällt mit Pauken und Trompeten durch.

Fem-Ampel

Sie würde ROT leuchten …

Stereotype Darstellung der Geschlechter
86%
negatives Queercoding
75%
negatives Non-White-Coding
75%

wäre da nicht die Tatsache, dass Rapunzel nicht das Motiv der Liebesbeziehung als primäres Ziel in ihrem Leben hat. Abgesehen davon sorgt die Inszenierung des Songs I’ve Got a Dream für ein wirklich angenehmes Aufbrechen männlicher Stereotype. Lasst uns also abschließend den roten Teppich für die erzählerischen Stereotyp-Fehltritte ausrollen: Hier kommen die No-Go’s!

  • Ein männlicher, heterosexueller Erzähler berichtet, dass eine Frau, die nichtweiß und queer ist, sich ständig verjüngt
  • um ihr nichtweißes und queeres Leben aufrecht zu erhalten, stiehlt sie ein Kind und sperrt es in einen Turm
  • Jahre später verirrt sich der kriminelle Erzähler in ein Gefängnis, in dem eine Minderjährige gefangen gehalten wird
  • die Minderjährige verliebt sich in den fremden, erwachsenen Mann, der sie wie Scheiße behandelt, weil sie “hinter seine Fassade” blicken kann
  • er rettet sie durch einen glorreichen kognitiven Impuls, was dafür sorgt, dass
  • die Gerettete zu ihren sehnsüchtig wartenden, biologisch-heteronormativen Eltern heimkehrt
  • und alle – bis auf die nichtweiße, queere Antagonistin – ein “Happily-Ever-After” bekommen
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